* 24 *

24. Das Enterkommando

 

Lucy

Der Drache an Deck rührte sich nicht, obwohl ihn Königin Etheldredda durchdringend anstarrte. Er lag da und schnarchte. Eine große Gasblase stieg aus seinem Magen herauf und entwich mit einem lauten Knall. Etheldredda zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, und die Königsbarke wich vor den unangenehmen Drachendämpfen zurück. Die Königin lehnte sich über die Reling und spähte mit zusammengekniffenen Augen zur Alfrun hinüber. Auf diesem Boot ging etwas vor, und sie würde herausfinden, was. Vorsichtig wie ein Reiher, der durch seichtes Wasser stelzt, stieg der Geist der Königin aus der Barke, wandelte übers Wasser, als spaziere er über den Palastrasen, und kletterte an Bord der Alfrun.

»Sie ist hier!«, zischte Snorri in ihrer Sprache. Jenna verstand nicht, was sie sagte, entnahm aber ihrem Ton, was los war. Sie kroch unter eine große Wolldecke und vertrieb Ullr, der seit seiner letzten Nachtwache auf der Decke geschlafen hatte. Der Kater schlüpfte aus der Kajüte und schoss nach oben an Deck, sein Schwanz war empört in die Höhe gereckt. Ullr war nicht nur ein Nachtgeschöpf. Er entstammte einer langen Linie von Geisterseherkatzen, die natürlich viel verbreiteter sind als menschliche Geisterseher. So war er, als er an Deck kam und den Geist erblickte, ganz und gar nicht erfreut. Auch vom Anblick der beiden Ratten oben auf dem Mast war er nicht angetan, aber die konnten warten. Die würde er sich fürs Abendessen aufheben.

Als er sah, dass Königin Etheldredda näher kam, stürzte er sich auf sie und jaulte, wie nur eine Geisterseherkatze jaulen kann. Es war schrecklich anzuhören: wie von einer Todesfee, einem Braunling und einem Marschheuler zusammen. Königin Etheldredda blieb vor Schreck die Luft weg, als sie auf so gewaltsame Weise passiert wurde, und brach hustend und spuckend auf Deck zusammen – ihr war, als hätte sie eine komplette Katze verschluckt, mit Fell und Krallen und allem Drum und Dran.

An Land hörte Wolfsjunge Ullrs Gejaule. Er rannte durch die Obstgärten herbei, um nachzusehen, was los war. Als er an der Alfrun ankam, bot sich ihm ein höchst merkwürdiges Bild: Die Nordhändlerin und ihre Katze waren verrückt geworden, vollkommen übergeschnappt. Die Katze – ein rötliches Ding, hässlich und dürr – sprang unablässig immer wieder hin und her, als stürze sie durch etwas hindurch. Das Mädchen fuchtelte mit den Armen und rief in ihrer Sprache etwas, das wie Anfeuerungsrufe klang. Und dann blieb die Katze plötzlich stehen. Das Mädchen stieß triumphierend die Fäuste in die Luft, hob die Katze hoch, rannte mit ihr zur Reling und blickte lachend auf den Fluss.

Wolfsjunge sprang an Bord und stürmte in die Kajüte hinunter.

»Jenna?«, rief er mit einem heiseren Flüstern. »Jenna?«

»Ja?«, kam es unter der Decke hervor.

»Was machst du denn da unten?«

»Ich verstecke mich«, lautete ihre gedämpfte Antwort. »Pst. Sonst bemerkt sie dich.«

»Das ist kein gutes Versteck, Jenna. Sie ist übergeschnappt. Lass uns von hier verschwinden, solange wir noch können. Schnell, bevor sie ... oh, Mist.«

Snorris grinsendes Gesicht erschien in der Luke. »Die Rastlose ist fort«, sagte sie. »Sie ist über Bord gefallen und untergegangen. Jetzt ist sie wieder auf ihrer Barke mit Seegras in der Krone.« Plötzlich verschwand ihr Grinsen. Sie kletterte durch die Luke herein, setzte sich auf die oberste Treppenstufe und schüttelte den Kopf.

Auch Wolfsjunge schüttelte den Kopf. Der Fluchtwegwar ihnen abgeschnitten. Sie hätten verschwinden sollen, als sie noch Gelegenheit dazu gehabt hatten.

»Es gibt ein paar Dinge«, murmelte Snorri, »die ich nicht verstehe.«

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Jenna und kroch unter der extrem kratzigen Decke hervor.

»Zum Beispiel war die Königin zu ihren Lebzeiten nie auf meinem Boot – wieso wurde sie dann nicht zurückgeschickt?«

»Was?«, fragte Wolfsjunge. Snorri sprach in Rätseln.

»Als Geist«, zitierte Snorri, »du stets nur dorthin darfst, wo du im Leben schon mal warst.«

»Das ist doch bloß ein Kinderreim«, spottete Wolfsjunge.

»Das ist kein Kinderreim«, gab Snorri beleidigt zurück. »Das ist eine Regel des Geisterdaseins.«

Wolfsjunge schnaubte verächtlich.

»Doch«, beharrte Snorri, »das weiß ich genau. Alle Geisterseher kennen sie.«

»Haha«, lachte Wolfsjunge.

»Pst!«, machte Jenna und warf Wolfsjunge einen warnenden Blick zu. Sie glaubte Snorri, denn Snorri hatte Etheldredda deutlich gesehen. Jenna wollte mehr hören. »Was verstehst du außerdem nicht?«, fragte sie.

»Ich verstehe nicht, warum Seegras an ihrer Krone hängt. Ein Geist ist körperlos. Eigentlich geht das gar nicht.«

Wolfsjunge seufzte. Das alles war doch zu merkwürdig. Da lobte er sich den Wald und seine Bewohner. Bei denen wusste man wenigstens, woran man war: Die meisten wollten einen fressen.

»Was ... was ist sie dann?«, fragte Jenna mit gedämpfter Stimme, als könnte Königin Etheldredda vor der Kajüte lauschen.

Snorri zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie ist ein Geist und trotzdem... Sie ist mehr als ein Geist...«

Poch ... poch ... poch. Jemand – oder etwas – klopfte gegen den Rumpf des Bootes. Snorri sprang auf. »Was ist das?«, stieß sie hervor.

Jenna und Wolfsjunge, denen es mittlerweile ziemlich unheimlich war, erbleichten. Das Klopfen hallte gespenstisch durch die Kajüte. Poch ... poch ... poch.

»Etheldredda kommt zurück«, flüsterte Jenna.

Mutig streckte Snorri den Kopf aus der Luke. »Hallo?«, rief sie in ihrem singenden Nordhändlerakzent.

»Hallo!«, antwortete eine fröhliche Stimme. »Weißt du, dass du einen entlaufenen Drachen an Bord hast?«

»Entlaufen? Von wo?«, fragte Snorri.

»Von der Burg. Er gehört meinem Bruder. Er wird überall nach ihm suchen.«

»Deinem Bruder?« Snorri kletterte eilends an Deck. Ein Junge mit lachenden grünen Augen machte gerade sein Boot an der Alfrun fest. Sie sah seine salzbefleckte Seemannskleidung und seine verfilzten lockigen Haare, die beinahe so blond waren wie ihre, und da wusste sie, dass sie ihm trauen konnte.

»Ja, leider«, antwortete der Junge. »Ich würde ihn ja mitnehmen und zurückbringen, aber er ist zu groß für mein Boot. Und auch ein bisschen zu groß für deines, wenn du mich fragst. He ... Jenna!«

»Nicko!« Jenna tauchte aus der Kajüte auf und lachte. »Was tust du denn hier?«

»Ich soll Ruperts verflixte Schaufelboote einsammeln. Letzte Nacht ist in seinen Schuppen eingebrochen worden, und er glaubt, dass er eine Menge verloren hat. Aber bis jetzt habe ich nur eines gefunden.« Er deutete auf ein kleines rosa Schaufelboot, das er im Schlepptau hatte. »Reine Zeitverschwendung, wenn du mich fragst.«

Jenna bemerkte Snorris verwirrte Miene. »Das ist Nicko«, erklärte sie. »Er ist mein Bruder.«

»Dein Bruder?«, fragte Snorri, für deren Geschmack die Liste der Brüder etwas zu schnell wuchs. »Der, der in den Spiegel gefallen ist?«

»Was für einen Spiegel?«, fragte Nicko.

»Ach«, rief Jenna. »Du weißt das mit Sep noch gar nicht?«

Nicko sah, dass ihr Tränen in die Augen traten. Mit beklommenem Herzen kletterte er an Bord der Alfrun.

Wolfsjunge ließ Jenna und Nicko allein und stahl sich fort. Da war jemand, nach dem er sehen wollte. Er fand Lucy Gringe, wo er sie vorhin zurückgelassen hatte, am Ufer unter einer Weide sitzend.

»Du schon wieder?«, murrte sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst. Das blöde Schaufelboot brauche ich sowieso nicht.« Lucy hatte sich in ihren blauen Mantel gewickelt und die Arme um die Knie geschlungen, und die rosa Bänder, die sie als Schnürsenkel benutzte, waren feucht vom nassen Gras. Sie hielt einen Brief in der Hand, der vom häufigen Auseinander- und Zusammenfalten ganz zerknittert war, und bewegte langsam die Lippen, während sie seinen Inhalt las, den sie in- und auswendig konnte. Der Brief war von Simon Heap. Sie hatte ihn im Saum des blauen Mantels gefunden, den ihr Jenna gebracht hatte. Der Briefkopf bestand nur aus dem Wort Observatorium, und darunter stand:

Meine liebste Lucy,
dieser Mantel ist für Dich. Ich werde bald zurückkommen, und dann werden wir zusammen oben im Zaubererturm leben. Du wirst stolz auf mich sein. Warte auf mich.
Dein Liebster,
Simon.

Aber Lucy war das Warten leid, und da sie jetzt wusste, dass Simon nie wieder in die Burg zurückkehren konnte, hatte sie sich auf die Suche nach ihm begeben. Aber bis jetzt hatte sie eigentlich nur geschlafen und nach dem Aufwachen feststellen müssen, dass ihr Boot nicht mehr da war. Das war kein guter Anfang. Wolfsjunges Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich habe dein Boot gefunden«, sagte er außer Atem.

»Wo?«, fragte Lucy, faltete hastig den kostbaren Brief zusammen und sprang auf.

»Nicko hat es.«

»Nicko Heap? Simons Bruder?«

»Ja, das ist er wohl. Aber dafür kann er ja nichts.« Wolfsjunge, der einem Betäubungsblitz Simons als Zielscheibe gedient hatte, hatte keine hohe Meinung von Simon Heap.

»Was willst du damit sagen, dafür kann er nichts, du unverschämter Lümmel?« Lucys braune Augen funkelten zornig.

»Nichts«, sagte Wolfsjunge, der merkte, dass mit Lucy nicht zu spaßen war. Langsam bereute er es, dass er ihr vorhin seine Hilfe angeboten hatte, als er sie unter Tränen das Ufer absuchen sah.

»Und wo ist dieser Nicko Heap?«, verlangte Lucy zu wissen. »Ich werde ihn fragen, was ihm einfällt, einfach mein Boot zu stehlen. So eine Frechheit.«

Wolfsjunge deutete grob in Richtung der Alfrun, wohl wissend, dass er es wahrscheinlich nicht tun sollte, und sah dann Lucy nach, wie sie am Ufer entlang davonstapfte. Er folgte ihr in sicherem Abstand, und der konnte bei Lucy Gringe nicht groß genug sein.

Als er sich der Alfrun näherte, vernahm er laute Stimmen.

»Gib mir mein Boot zurück!«

»Das Boot gehört Rupert, nicht dir!«

»Rupert sagt, dass ich mir jederzeit ein Boot nehmen kann, und damit basta.«

»Nun,ich ...«

»Und jetzt nehme ich mir eins – kapiert, Nicko Heap?«

»Aber...«

»Entschuldigung. Würdest du mir aus dem Weg gehen?«

Wolfsjunge kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Lucy übers Deck rannte und über den Schwanz des schlafenden Feuerspei stolperte. Aber so leicht ließ sich Lucy Gringe nicht aufhalten. Sie rappelte sich hoch, hielt sich die Nase zu, als Feuerspei eine weitere Gasblase freisetzte, und ließ sich an der Bordwand der Alfrun hinab.

Nicko kam an die Reling. »Wo willst du denn damit hin?«, fragte er besorgt.

»Das geht dich nichts an, du neugieriger Kerl. Sind alle Brüder Simons solche Nervensägen und Wichtigtuer wie du?«

Snorri setzte Simon auf die Liste der Brüder. Wie viele hatte Jenna denn noch?

»In dem Schaufelboot bist du auf dem Fluss nicht sicher«, warnte Nicko. »Das ist doch nur ein Spielzeug. Damit gondelt man zum Spaß auf dem Burggraben herum.«

Lucy sprang ins Boot, das bedenklich schaukelte. »Es hat mich bis hierher gebracht und wird mich auch nach Port bringen, damit du’s weißt.«

»Damit kannst du nicht nach Port fahren!«, rief Nicko entsetzt. »Hast du eine Vorstellung, wie stark der Tidenstrom in der Flussmündung ist? Die Strömung wird dich aufs offene Meer hinaustreiben, wenn du nicht schon vorher in den Wellen vor der großen Sandbank gekentert bist. Du bist verrückt.«

»Vielleicht«, sagte Lucy schmollend. »Ist mir doch egal. Ich fahre auf jeden Fall.« Sie machte die Leine los, ergriff die Schaufelradkurbeln und drehte sie wie wild.

Das kleine rosa Boot fuhr wackelig auf den Fluss hinaus, bis es Nicko nicht mehr mitansehen konnte. »Lucy!«, rief er. »Nimm mein Boot!«

»Was?«, schrie sie gegen das Klappern der Schaufeln an.

»Nimm mein Boot – bitte!«

Lucy fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn sie es nicht zeigen wollte. Sie hatte nämlich das ungute Gefühl, das Nicko in Bezug auf das Boot recht hatte. Mit viel Mühe wendete sie das Boot, was ihr nur durch schnelles Drehen des einen Schaufelrads gelang, und steuerte zur Alfrun zurück, die sie fünf Minuten später erreichte, atemlos, erhitzt und immer noch schlecht gelaunt.

Dann sahen Jenna, Snorri, Wolfsjunge und Nicko zu, wie Lucy Gringe zum zweiten Mal davonfuhr, diesmal in Nickos seetüchtigem Ruderboot.

»Aber wie willst du jetzt zurückkommen?«, wandte sich Jenna an Nicko. »Du wirst doch nicht das Schaufelboot nehmen, oder?«

Nicko schnaubte verächtlich. »Du machst wohl Witze. Lieber möchte ich tot umfallen, als in so einem Ding gesehen zu werden, speziell mit so einer doofen Farbe. Ich helfe euch, Sep zu suchen, was denn sonst?«

Zum ersten Mal, seit Septimus verschwunden war, lächelte Jenna. Nicko würde alles in Ordnung bringen. Das wusste sie.

Septimus Heap 03 - Physic
titlepage.xhtml
Septimus Heap 03 Physic 01_split_000.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_001.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_002.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_003.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_004.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_005.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_006.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_007.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_008.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_009.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_010.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_011.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_012.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_013.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_014.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_015.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_016.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_017.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_018.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_019.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_020.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_021.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_022.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_023.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_024.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_025.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_026.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_027.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_028.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_029.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_030.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_031.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_032.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_033.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_034.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_035.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_036.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_037.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_038.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_039.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_040.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_041.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_042.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_043.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_044.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_045.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_046.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_047.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_048.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_049.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_050.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_051.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_052.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_053.html